Wo immer führende deutsche Manager zusammenkommen – Verbandstreffen, Messen oder andere Foren – scheint kein Thema so heiß diskutiert zu werden wie die “digitale Transformation” der deutschen Wirtschaft. Umso erstaunlicher ist, dass das Thema in den Geschäftsberichten vieler Dax-Unternehmen kaum auftaucht.
“Wie die Konzerne mit dem Thema umgehen, sollte sich ja aus den Geschäftsberichten ergeben”, sagt Julian Kawohl, Inhaber der Professur für Strategisches Management an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin. “Denn die hier veröffentlichten Informationen sind entscheidend für Anteilseigner, Mitarbeiter und Kunden der Unternehmen.”
Innerhalb des Dax gibt die Deutsche Telekom am umfassendsten Auskunft zur Transformation des eigenen Unternehmens. Knapp dahinter folgt auf Platz zwei die Deutsche Bank, dann die Commerzbank, Bayer und E.ON. Im Spitzenfeld liegen ebenfalls noch die Deutsche Post, die Lufthansa sowie Henkel. Aber ausgerechnet SAP, ein international operierender Softwarekonzern, landet erst auf Platz 22.
Telekom und Banken thematisieren Wandel am häufigsten
Kawohl hat alle Geschäftsberichte unter die Lupe genommen und mehr als 6000 Fundstellen ausgemacht, in denen es um Transformationsprozesse geht. “Aber es sollte nicht eine kleine Prozessoptimierung beschrieben werden, sondern die Anpassung des Geschäftsmodells an einen radikalen Wandel”, sagt der Wissenschaftler.
Deshalb seien am Ende nur 212 Stellen übrig geblieben, in denen die Konzerne klar und deutlich formuliert haben, wie der digitale Wandel sich auswirkt und wie man ihm begegnen werde. “Dass die Großkonzerne insgesamt nur so spärlich über Transformationsaktivitäten berichten, hat uns dann doch erstaunt”, sagt Kawohl.
“Antworten für die digitale Zukunft” lautet der Titel des Telekom-Geschäftsberichts, der dann an 25 Stellen detailliert darüber informiert, was die Digitalisierung für das Unternehmen, seine Kunden, Mitarbeiter und Geschäftspartner bedeuten könne oder werde. Die deutsche Bank hat den Wandel 24 Mal thematisiert, die Commerzbank 17 Mal.
“Die Telekom als ehemaliger Staatskonzern befindet sich schon seit längerem in einem umfassenden Wandlungsprozess, bei der die Digitalisierung eine wichtige Rolle spielt”, sagt Kawohl. Und die Deutsche Bank nehme in zahlreichen konzernweiten Projekten eine digitale Transformation ihrer Geschäftsaktivitäten und ihrer Kultur vor.
Auch die Commerzbank habe vielfältige Aktivitäten gestartet, um sich an die neuen Rahmenbedingungen in der Finanzbranche mit Niedrigzinsen und neuen Wettbewerbern aus der Start-up-Szene aufzustellen. Bayer (15), E.on (12), Merck (10), Deutsche Post (10), Lufthansa (10), Henkel (9) sind laut Kawohl ebenfalls noch ordentlich platziert.
Autobauer im Mittelfeld
Volkswagen, Daimler, Adidas und Allianz sind mit acht Nennungen ebenfalls im Mittelfeld. Kawohl geht davon aus, dass die Automobilindustrie bei der Fokussierung auf den digitalen Wandel noch zulegen wird.
Den Nachholbedarf in der Automobilindustrie sieht auch Maren Freyberg von der Dwight Cribb Personalberatung in Hamburg, die sich auf die Besetzung von Führungskräften mit Digitalkompetenz spezialisiert hat. Die “Car Guys” alter Prägung müssten sich komplett umstellen und öffnen. Eine Herausforderung, denn Automobil-CEOs seien um die 60 Jahre alt und mehr als 90 Prozent hätten ihre gesamte Karriere im Automobilsektor verbracht.
Künftige Führungskräfte müssten verstehen, dass Kundenbedürfnisse sich ändern und Konsumenten Produkte wollen, die sich an ihr Leben anpassen, so die Personalberaterin. Autos sollen, wie das iPhone, einfach per Software-Update nachgerüstet werden können.
Zukünftig werden sich Automobilhersteller also wandeln müssen. Es ginge nicht mehr um das Produkt Auto, sondern um das Lebensgefühl Mobilität. “Dafür müssen sich die Konzernspitzen verändern. Digitalkompetenz und Diversität sind dabei erfolgskritische Komponenten”, sagt Freyberg.
Auch die Allianz dürfte ihre digitalen Projekte künftig noch mehr ausbauen. Schließlich hat der Versicherungskonzern seit Jahresbeginn sogar einen eigenen Digitalvorstand. Solmaz Altin war zuvor Allianz-Chef in der Türkei. Nun hat er die Gesamtverantwortung für die digitale Transformation des Konzerns.
Fresenius, K+S und Linde sind Schlusslichter
Schlusslichter in Bezug auf die im Geschäftsbericht skizzierten Transformationsaktivitäten sind der Medizintechnikhersteller Fresenius, der Düngemittelhersteller K+S sowie der Industriegaseanbieter Linde. Kawohl: “Bei diesen drei Unternehmen konnte in der Analyse kein in den Geschäftsberichten beschriebener Vorgang als transformationsrelevant verifiziert werden.”
Münchner Rück, BASF, Infineon, Beiersdorf und SAP behandeln die digitale Transformation in ihren Geschäftsberichten nur marginal. Zumindest im Fall von SAP muss das laut Kawohl nicht zwangsläufig heißen, dass digitale Geschäfte dort eine untergeordnete Rolle spielen. So habe sich der Walldorfer Konzern schon frühzeitig um das Thema gekümmert. Deshalb habe es im aktuellen Geschäftsbericht keinen so großen Stellenwert.
Aufschlussreich sei auch der Branchenvergleich, sagt Kawohl. Danach liegen die Unternehmen der IT- und Telekommunikationsindustrie an der Spitze vor der Finanzdienstleistungsbranche gefolgt von der Logistik und dem Pharma- und Medizintechnik-Bereich. Mit etwas Abstand reihen sich die Automobil-, Konsumgüter-, Chemie- und Technologiebranche danach ein. Die Schlussposition belegen die Rohstoffhersteller und -händler.
Diese geringe Beachtung könne unterschiedliche Ursachen haben. Möglicherweise gebe es noch nicht genügend Aktivitäten in Richtung digitaler Transformation. Oder entsprechenden Veränderungen im Unternehmen werde nicht genug Bedeutung für die Zukunft des Konzerns beigemessen, sodass sie gar nicht kommuniziert werden. “Beides aber läuft auf einen gefährlichen, zu geringen Stellenwert des Themas hinaus”, sagt Kawohl.
Der Beitrag erschien zuerst am 15. April 2016 bei DIE WeLT.