Welchen speziellen Themen müssen sich Aufsichtsräte ab sofort verstärkt widmen?
Wir leben in einer Zeit, die es so in unserem Leben noch nicht gab. Für Aufsichtsräte gilt noch viel mehr als sonst, dass jede Entscheidung vom Vorstand auf Zukunftsfähigkeit geprüft werden muss. Die COVID-19 Pandemie und die damit einhergehende Krise haben die Digitalisierung mit Wucht auf unser aller Tische gebracht. So gut wie jedes Unternehmen muss sich aufgrund der neuen Marktsituationen neu erfinden. Welche Richtung ein Unternehmen auch einschlägt, Aufsichtsratsmitglieder müssen Fähigkeiten in den (neuen) relevanten Themen mitbringen. Oft sehe ich gesettlete Aufsichtsräte, die wenig zu einer digitaleren Zukunft eines Unternehmens beitragen können. Sprich, welchen Weg eine Firma auch einschlagen möchte, Begleiter mit Expertise sind essenziell.
Unabhängig vom Kompetenzprofil: Welche persönlichen Eigenschaften sollte ein Aufsichtsratsmitglied mitbringen, um den Herausforderungen der Zeit zu begegnen?
Oft erlebe ich Aufsichtsratsmitglieder, denen es vor allem um sich selbst geht. Eigentlich sollte es klar sein, aber es muss vor allem um die Interessen des Unternehmens gehen. Daher ist es unabdingbar, sich auf die Branche einzulassen und sich mit der Situation der Firma zu identifizieren. Außerdem hilft es, dem Vorstand wohlwollend gegenüber zu stehen – am besten mit Rat, Tat und Netzwerk. Das gilt auch und vor allem in Corona-Zeiten, in denen sich jedes Unternehmen im Change-Prozess befindet. Daher: a) Identifikation mit dem Unternehmen b) Lust sich einzubringen und zu helfen c) Dialogfähigkeit.
Wenn du etwas jetzt sofort ändern könntest: Was würdest du in Aufsichtsräten als Allererstes ändern?
Schon vor der öffentlichen Debatte um Diversität habe ich eine viel zu homogene Struktur in Aufsichtsräten festgestellt und bemängelt. Zwar sitzen in Aufsichtsräten diverse Fachrichtungen, aber die Diversität in Hinblick auf Herkunft, Alter und Geschlecht würde vielen Unternehmen in Aufsichtsräten guttun. Ein Aufsichtsratsmitglied sollte wertstiftend und unterstützend sein, aber auch die richtigen kritischen Fragen stellen. Das geht am besten in gemischten Teams, weil gerade unterschiedliche Sichtweisen und Erfahrungen diesen Mehrwert erzeugen. Darüber hinaus muss das Thema Digitalisierung zwingend auf mehreren Schultern verteilt sein.
Was würdest du Aufsichtsrats-Neulingen mit auf den Weg geben?
Sagt was ihr denkt und haltet euch nicht zurück. Es gibt einen Grund, warum gerade ihr in dieser Runde sitzt. Niemandem ist geholfen, wenn euer wichtiges Know-How aus Zurückhaltung oder aus Höflichkeit nicht mit ins Unternehmen kommt. Und lieber eine kritische Stimme mehr als eine zusätzliche Ja-Sager Person.
Gab es in deiner bisherigen Arbeit als Aufsichtsratsmitglied ein Aha-Erlebnis?
Es gibt Aufsichtsräte, in denen durch die unterschiedlichen Charaktere ein kritischer, aber konstruktiver Dialog möglich ist. Hier werden anderslautende Meinungen zugelassen und konstruktiv diskutiert. Wenn dann eine Entscheidung getroffen ist, stehen alle geschlossen dahinter. Der Aufsichtsrat, in dem ich diese Atmosphäre am deutlichsten gespürt habe, hatte ein Durchschnittsalter von 58 Jahren. Das Alter allein ist offensichtlich nicht der entscheidende Faktor, sondern Verhalten und Diversität. Wie “gut“ ein Aufsichtsrat ist, ist also nicht vom Durchschnittsalter, sondern von Stimmung, Diversität und Mut zum Fortschritt abhängig.